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11. Juli 2024
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Max Krahé

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Fachtexte

Jenseits von Maastricht – Wie Europa an Souveränität gewinnen kann

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Max Krahé

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Seit einigen Jahren wird diskutiert, wie Europas Souveränität gestärkt werden kann. Dieses Papier bringt drei Punkte in die Debatte ein.

Erstens: Es gibt einen guten Grund, weswegen diese Absicht seit 2017 intensiv debattiert wird: Europas jüngere politische Ordnung, die Maastricht-EU, zielte auf die Überwindung von Souveränität, nicht auf deren Stärkung. In einer Welt von Krieg und Industriepolitik, Putin und Trump ist das eine überholte Zielsetzung. Ein Paradigmenwechsel ist notwendig. Souveränität liegt jenseits von Maastricht.

Zweitens: Die bisherige Souveränitätsdebatte berührt wichtige Felder, würde aber von einer engeren Verbindung mit institutionellen Reformdebatten profitieren. Ohne klare Entscheidungsstrukturen führt auch eine starke materielle Basis weder zu Selbstbestimmung noch zu Sicherheit.

Drittens: Eine Klärung von Entscheidungsstrukturen ist politisch herausfordernd. Um hier Fortschritte zu erzielen, liegen ehrliche Kuhhandel nahe: das Verschieben, Teilen oder Abgeben von Kompetenzen aus kalkuliertem Eigeninteresse. Solche Kuhhandel sind komplex und werden erschwert durch Vertrauensdefizite auf verschiedenen Ebenen. Zivilgesellschaft und Wissenschaft könnten einen konstruktiven Beitrag leisten, indem sie mögliche Elemente solcher Verhandlungen ausleuchten, insbesondere in Bereichen mit stabilen mitgliedsstaatlichen Präferenzen, zum Beispiel Energie, Finanzen oder Verteidigung.

Warum haben wir das Papier geschrieben?

Seit dem Brexit-Referendum, der Wahl Donald Trumps und Emmanuel Macrons erster Sorbonne Rede 2017 wird Europas Souveränität intensiv diskutiert. Mit Corona und dem russischen Angriff im Februar 2022 wurde das Thema prioritär, gerade in Bezug auf Deutschlands und Europas Wirtschaft. Aber wie genau ist der Souveränitätsbegriff zu verstehen? Kann man ökonomische Souveränität von politischer Souveränität trennen, und falls ja, entlang welcher Schnittlinien? Was können wir tun, um unsere Souveränität zu steigern? Diese Fragen scheinen uns dringend, aber noch nicht in voller Klarheit beantwortet.  

Was haben wir gelernt?

Unsere Betrachtung von Souveränität brachte drei Ergebnisse: Erstens, betrachtet man die jüngere europäische Geschichte durch die Linse der Souveränität, so erscheint sie in einem neuen Licht. Die Maastricht-EU wird als politisches Projekt erkennbar, das auf die Überwindung nationalstaatlicher Souveränität abzielte, nicht ihre Stärkung. Ihr Ideal war das friedliche Zusammenleben im Rechtsstaat und in der Marktwirtschaft. Politisches Handeln im eigentlichen Sinne war in diesem Rahmen weder als notwendig erachtet noch erwünscht.

Im Kontext der 1990er Jahre konnte dies als ein zukunftsweisender Versuch, die nationalstaatlich getriebene Gewalt des 20. Jahrhunderts hinter sich zu lassen und eine neue Form von Zusammenleben zu organisieren, verstanden werden. Doch in der Zwischenzeit hat sich Europa und die Welt so grundlegend verändert, dass die angestrebte postsouveräne Ordnung passé ist: gewichtige Staaten wie China, Russland und (in Teilen) die USA haben sich von dem Modell abgewandt; es ist unklar, ob es noch Frieden und Wohlstand sichern kann; und seine demokratische Legitimierung schwindet. Deshalb ist ein Paradigmenwechsel notwendig, weg von der postsouveränen Maastricht-EU.

Zweitens: Souveränität muss als Ganzes analysiert werden. Der Versuch, einzelne Politikbereiche isoliert zu betrachten, zum Beispiel nur “digitale”, “industrielle” oder “technologische” Souveränität, ist nicht zielführend. Denn innere Souveränität — die Bestimmung des legitimen Letztentscheiders — und äußere Souveränität — die Abwesenheit von Fremdbestimmung — sind eng verknüpft. Fehlt eine klar bestimmte Letztentscheidungsinstitution, oder fehlt dieser die Legitimität, so ist die Abwehr von Fremdbestimmung schwierig. Diese Verknüpfung wird zum Beispiel sichtbar in der Frühgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, die in diesem Papier kurz wiedergegeben wird. Dort ermöglichte erst eine Klärung der inneren Souveränität eine Wiedererlangung der finanziellen Handlungsfähigkeit und damit der Fähigkeit, ihre äußeren Interessen zu wahren. Der “Hamiltonian Moment” von 1790-1 war nur möglich auf Grundlage eines vorherigen “Constitutional Moment” von 1787-9.

Zwar sind die USA des späten 18. Jahrhunderts nicht das Europa des 21. Jahrhunderts, doch die Betrachtung der Bereiche Energie, Verteidigung, Industriepolitik und Finanzen im Rahmen dieses Papiers zeigten auf, dass auch hier und heute eine Klärung der inneren Souveränität die Basis der äußeren stärken könnte.

Drittens: im heutigen Kontext ist eine Klärung der inneren Souveränität in Europa sehr herausfordernd. Weder ist eine hinreichend robuste gesamteuropäische Öffentlichkeit gegeben, noch bestehen heute klare Mehrheiten für mehr europäische Staatlichkeit in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Um dennoch mehr Souveränität für Europa zu sichern, sind Kuhhandel eine Option: das Verschieben, Teilen oder Abgeben von Kompetenzen aus kalkuliertem, langfristig und umfassend verstandenem Eigeninteresse. Um diese zu ermöglichen, könnten Wissenschaft und Zivilgesellschaft einzelne Elemente ausleuchten, um ein gemeinsames Datenfundament zu schaffen, auf dessen Grundlage verhandelt werden könnte.

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